Eine Tänzerin wird gefragt, was sie mit ihrem Tanz habe sagen wollen.
Antwort: Wenn ich es sagen könnte, bräuchte ich es nicht zu tanzen. Tanz ist eine Wurzel von Musik. So ist auch der Mehrwert des Singens schwer zu beschreiben — eben wieder mit Worten.
Auf den Geschmack kommt nur, wer singt.
Natürlich kann ich die liturgischen Rufe, Bekenntnisse, Zurufe, Zustimmungsformeln, Gebete, Lobpreisungen, Segnungen auch sprechen. Sprache und Begriffe bringen etwas auf den Punkt, bieten Information, wenden sich an den Verstand. Darum geht es aber z.B. beim Segen gar nicht.
Die hymnische Sprache hat eine Affinität zur Musik. Das ist auch bei »weltlichen« Texten so. Liebeslieder sollte man eben nicht als Vorlesetext ausprobieren: Ännchen von Tharau ist die mir gefällt / Du, du liegst mir im Herzen /Kein schöner Land in dieser
Zeit … gesprochen? Niemand würde mir ins Wort fallen, erst recht niemand um den Hals. Stimme ich diese Lieder aber singend an, summen viele Menschen mit und wollen einstimmen. Gesang hat einen eigenen Charme.
Französisch charme leitet sich ab vom lateinischen carmen: das Lied.
Für das liturgische Singen sind kein extremer Tonumfang oder überdurchschnittliche »Atemtechnik« nötig.
Mag sein, dass meine Singstimme am Sonntagmorgen so gar nicht bei der Tonhöhe liegt, die die Orgel mir anbietet. Da kann es für den liturgischen Dialog mit der Gemeinde entlastend sein, zu verabreden, dass die Orgel pausiert und ich einen eigenen Ton zum Anstimmen wähle.
In jedem Fall ist ein gesungener Ton für die Gemeinde ein besonderes Angebot: Hier streckt mir einer mehr als seine Hand entgegen, hier zieht mich jemand, lässt mich dicht zu sich heran und sucht Kontakt mit mir, hier verlässt einer seine Sprechstimme und fordert die Gemeinde persönlich heraus im Sinne des Wortes personare: hindurch-klingen, macht sich klingend kenntlich.
Dabei bin ich als Lektorin oder Prädikant in der hervorragenden Situation, dass ich mir diese Rolle und Texte nicht ausdenken oder etwa auf mein aktuelles Gegenüber passend zuschneidern müsste. Nein, alles Private oder Zufällige lasse ich im liturgischen Singen hinter mir. Ich singe ohne eigene Ambition, bin eher Bote, Durchgang, Nachhall von etwas, das nicht aus mir selber kommt. Ich trete innerlich einen Schritt zurück, erwarte eher passiv und ohne Druck meinen Ton: ich lasse es zu!
Natürlich bleibe ich beteiligt, es geht eben auch nicht ohne mich, die Worte werden lebendig durch meine Stimme, kommen wie in einer Geburt durch meinen Körper zur Welt, ich bin ihr Klangleib. Durch mich hindurch ereignet sich Schwingung, die die Ohren der Hörer erreicht, in ihnen eine Bewegung, Vibration, Mitschwingen auslöst. Beinahe physikalisch erklärt sich dieser Kommunikationsvorgang, wenn ihn einer anstimmt!
Wo sonst in dieser Welt werden wir angesungen mit der Erwartung, singend zu antworten. Wir kennen essicher von der »Gemeindeseite« her, dass wir auf-hören, auf-horchen, singend ge-horchen (Resonanz) und dadurch zueinander ge-hören. Liturgisch durchgehend gestaltete Gottesdienste, wie sie im Evangelischen Gesangbuch unter den Nummern 783 – 790 als Tageszeitengebete angeboten werden, lassen sich ohne Klerus, dafür dialogisch im Wechselgesang feiern. Mündlichkeit erzieht hier auch zur Mündigkeit.
Die Renaissance dieser Formen (siehe Taizé) hat ihren Grund im Überdruss am Individualismus und Subjektivismus,in einer neuen Suche nach
Vergemeinschaftung, Zusammengehörigkeit, gemeinsam erfahrbarer Spiritualität, wie sie durch gemeinsames Singen gestiftet werden kann. Wir können es durchaus eine Form der Ekstase nennen: »Außer-sichsein«, Hingerissensein in Selbstvergessenheit, Freiheit erfahren als Gegensatz zur kräftezehrenden Selbstinszenierung und blinden Selbstverliebtheit. Sich ungeteilt dem Klang hinzugeben, das wünsche ich Ihnen und uns in der Kirche gemeinsam: Ich singe – aber auch: es singt durch mich hindurch. In der Stimme klingt mein Innerstes an – aber auch: ich verändere mich im Klanggeschehen.
Mathias Gauer
Mathias Gauer ist Landessingwart der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland